Rechtsprechung: Hypothetische Einwilligung des Patienten in Operationsrisiken (19.11.2015)

Im Entscheid 4A_160/2015 vom 13. Juli 2015 hatte sich das Bundesgericht mit einer Beschwerde eines vorinstanzlich zu Schadenersatz verurteilten Arztes zu beschäftigen. Die Patientien unterzog sich wegen starken Rückenschmerken einem chirurgischen Eingriff. Die eingesetzte Schraube an der Wirbelsäule verbesserte den Zustand der Patientin zunächst. In der Folge wurde allerdings festgestellt, dass sich diese Schraube verbogen hatte, weshalb die Rückenschmerzen wieder auftraten. Das Bundesgericht hatte sich mit grundsätzlichen Fragen im Zusammenhang mit der ärztlichen Sorgfaltspflicht zu befassen:

Zunächst stellte das Bundesgericht klar, dass die Rechtsbeziehung zwischen Patientin und Arzt als Auftragsverhältnis zu qualifizieren ist. Gemäss Art. 398 Abs. 1 OR haftet der Arzt für getreue und sorgfältige Ausführung des ihm übertragenen Geschäfts. Die Verletzung seiner Sorgfaltspflicht ("Kunstfehler") stellt eine Verletzung seiner Auftragspflicht dar. Sodann gehört die Aufklärungspflicht zu den vertraglichen Pflichten des Arztes (vgl. hierzu bereits BGE 133 III 121).

Im vorliegenden Fall entscheidend war die Frage der ärztlichen Aufklärung bzw. der Einwilligung der Patientin in die Operation: Das Bundesgericht führt aus, dass es dem Arzt obliegt zu beweisen, dass er den Patienten ausreichend aufgeklärt und dieser in den Eingriff eingewilligt hat. Liegt keine solche Einwilligung vor, kann sich der Arzt gegebenenfalls auf eine hypothetische Einwilligung berufen. Die Beweislast liegt auch hier beim Arzt, wobei der Patient insofern mitwirken muss, indem er glaubhaft macht, warum er sich der Operation widersetzt hätte, wenn er die Risiken gekannt hätte. Grundsätzlich darf nicht von einer hypothetischen Einwilligung ausgegangen werden, wenn Art und Schwere des Risikos eine erhöhte Informationspflicht geboten hätten, welcher der Arzt nicht nachgekommen ist. In einem solchen Fall ist es gemäss Bundesgericht denkbar, dass sich der Patient, hätte er die umfassende Information erhalten, in Bezug auf die zu treffende Entscheidung in einem echten Konflikt befunden und eine Überlegungszeit verlangt hätte. Nach der Rechtsprechung darf nicht auf ein abstraktes Modell des "vernünftigen Patienten" abgestellt werden, sondern auf die persönliche und konkrete Situation des Patienten, um den es geht. Nur wenn der Patient keine persönlichen Gründe geltend macht, die ihn zur Ablehnung der vorgeschlagenen Operation geführt hätten, ist nach objektivem Massstab auf die Frage abzustellen, ob die Ablehnung des Eingriffs vom Standpunkt eines vernünftigen Patienten aus verständlich wäre.

Beruft sich der Arzt auf eine hypothetische Einwilligung, muss der Patient also mitwirken, indem er glaubhaft macht oder wenigstens die persönlichen Gründe anführt, warum er sich der Operation widersetzt hätte, wenn er die Risiken gekannt hätte. Vorliegend hat die Patientin im vorinstanzlichen Verfahren solche Gründe nicht angeführt; sie hat auch nicht behauptet, sie hätte die Operation nicht durchführen lassen. Die Vorinstanz hätte deshalb (aufgrund dieser prozessualen Umstände) bejahen müssen, dass die Patientin grundsätzlich einer Operation zugestimmt hätte, auch bei einer Aufklärung in die konkreten Operationsrisiken. Weil sich dieselben Risiken in gleicher Weise verwirklicht hätten, wenn ein alternative Operationsmethode angewandt worden wäre (so die weiteren Feststellungen), fehlt es an einem durch die angenommenen Pflichtverletzungen (mangelnde Aufklärung, Wahl der Operationsmethode) verursachten Schaden. Gestützt auf diese konkreten Umstände kam das Bundesgericht zum Schluss, dass die Beschwerde teilweise gutzuheissen ist.

Kommentar: Dieses neuste Urteil zur Haftpflicht von Ärzten ruft auf Seiten der Ärzteschaft die Wichtigkeit der Aufklärungspflicht, insbesondere im Zusammenhang mit Operationen, in Erinnerung. Aus beweisrechtlichen Gründen empfiehlt es sich, die erfolgten Aufklärungshandlungen zu protokollieren und vom Patienten gegenzeichnen zu lassen. Damit können Nachteile zulasten des Arztes im Zuge der Sachverhaltsermittlung vermieden werden. Muss dagegen, wie im vorliegenden Fall, teilweise auf Zeugenaussagen zu einem rechtlich derart einschneidenden Tatbestandselement ausgewichen werden, bestehen für Ärzte stets Haftungsrisiken (und sogar die Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung, vgl. hierzu Philipp Juchli/Patrick Stach, Ärzte vor dem Richter - Wann handeln Ärzte fahrlässig?, Schweizerische Ärztezeitung 2013, S. 945 ff.). Für Patienten ist dieses Urteil deshalb bemerkenswert, als ihr in Gerichtsverfahren zur hypothetischen Einwilligung in medizinische Eingriffe eine Mitwirkung obliegt, nämlich die persönlichen Gründe vorzubringen, warum sie von einem konkreten Eingriff abgesehen hätte, wenn sie die zu befüchtenden Risiken gekannt hätten, andernfalls dem Patienten ein Rechtsnachteil droht.