Rechtsprechung: Nachträgliche Begründung einer fristlosen Kündigung (21.12.2016)

Das Bundesgericht hatte sich im Urteil 4A_109/2016 vom 11. August 2016 mit dem Nachschieben von Kündigungsgründen bei fristloser Entlassung zu befassen. Dem Entscheid lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Arbeitgeberin A AG kündigte B, welcher als Chief Operating Officer (COO) angestellt war, ordentlich. Noch während der Kündigungsfrist kündigte die Arbeitgeberin fristlos, was mit "Vorfällen der letzten Tage" begründet wurde. Anders als die erste Instanz war das Obergericht des Kantons Thurgau der Auffassung, der von der Arbeitgeberin geltend gemachte Grund für die fristlose Kündigung - eine E-Mail von B an eine Vertragspartnerin der A AG - sei kein wichtiger Grund i.S.v. Art. 337 Abs. 2 OR. In jener E-Mail ging es unter anderem um den Vater des Verwaltungsratspräsidenten, welcher angeblich über Jahre hinweg Kunstwerke mit fragwürdigen Zuschreibungen vermittelt hätte; nach dessen Tod habe sich gezeigt, dass es sich bei den meisten Bildern um Kopien handle, weshalb B den Vater des Verwaltungsratspräsidenten eines Kunstmarktskandals bezichtigte. Da die A AG im Prozess aber noch einen zweiten Grund für die fristlose Entlassung nachgeschoben habe (nämlich die Entwendung und Kopie einer Festplatte mit wichtigen Geschäftsdaten), wies es die Streitsache zur neuen Entscheidung an das Bezirksgericht zurück. Nachdem die kantonalen Gerichte schliesslich die Klage von B teilweise guthiessen, gelangte die A AG ans Bundesgericht, welches die Beschwerde abwies. Es erwog folgendes:

Nach Art. 337 OR kann der Arbeitgeber wie der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis aus wichtigen Gründen jederzeit fristlos auflösen (Abs. 1). Als wichtiger Grund gilt jeder Umstand, bei dessen Vorhandensein dem Kündigenden nach Treu und Glauben die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zugemutet werden darf (Abs. 2). Nach der Rechtsprechung ist eine fristlose Kündigung durch den Arbeitgeber nur bei besonders schweren Verfehlungen des Arbeitnehmers gerechtfertigt. Diese müssen einerseits objektiv geeignet sein, die für das Arbeitsverhältnis wesentliche Vertrauensgrundlage zu zerstören oder zumindest so tiefgreifend zu erschüttern, dass dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Vertrags nicht mehr zuzumuten ist, und anderseits auch tatsächlich dazu geführt haben. Sind die Verfehlungen weniger schwerwiegend, müssen sie trotz Verwarnung wiederholt vorgekommen sein (BGE 130 III 28BGE 129 III 380 mit weiteren Hinweisen). Zu berücksichtigen ist sodann auch die verbleibende Zeit bis zur ordentlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses (BGer Urteil 4C.95/2004 vom 28. Juni 2004). Ob die dem Arbeitnehmer vorgeworfene Pflichtverletzung die erforderliche Schwere erreicht, lässt sich nicht allgemein sagen, sondern hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab (BGE 127 III 153BGE 116 II 145).

Als wichtiger Grund kommt nur ein Ereignis in Frage, das sich vor der fristlosen Kündigung abgespielt hat. Nachträglich kann sich der Kündigende darauf aber nur berufen, wenn ihm dieser Umstand im Zeitpunkt der Kündigung weder bekannt war noch bekannt sein konnte. Diesfalls ist zu fragen, ob dieser Umstand derart ist, dass er - wenn der Kündigende ihn gekannt hätte - zu einem Vertrauensbruch hätte führen können und damit zur fristlosen Kündigung berechtigt hätte. Insofern ist das Nachschieben von Kündigungsgründen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts zulässig (vgl. statt vieler BGE 127 III 310 mit weiteren Hinweisen). Im Zusammenhang mit der Gleichartigkeit der Kündigungsgründe stellte das Bundesgericht klar, dass einzig entscheidend sei, ob aufgrund des bei der Kündigung genannten und des - allenfalls auch andersartigen - nicht bekannten, nachgeschobenen Grundes davon auszugehen ist, dass diese insgesamt einen hinreichenden Vertrauensverlust hätten bewirken können. Der in der Lehre geäusserten Auffassung, wonach zusätzlich verlangt werde, der nachgeschobene Grund müsse ähnlich bzw. von gleicher Art sein wie der in der Kündigung genannte, erteilte das Bundesgericht eine Absage.
 
Deshalb erwog das Bundesgericht, dass ein Nachschieben von Kündigungsgründen nur zulässig ist, wenn der betreffende Umstand bei der Kündigung weder bekannt war noch bekannt sein konnte. Dies schliesst ein Nachschieben für den Fall aus, dass der Kündigende im Zeitpunkt der fristlosen Kündigung zwar von einem weiteren Umstand Kenntnis hat, diesen aber aus irgendwelchen Gründen nicht zur Kündigungsbegründung nennt. Da die Beschwerdeführerin im Zeitpunkt der fristlosen Kündigung vom nachgeschobenen Kündigungsgrund rund um die Festplatte Kenntnis hatte, war ein Nachschieben unzulässig. Somit wäre die fristlose Entlassung nur gerechtfertigt, wenn die erwähnte E-Mail als Grund dafür genügen würde, was die A AG nicht darzulegen vermochte.
 
Kommentar: Dieser Bundesgerichtsentscheid soll Arbeitgeber daran erinnern, dass eine fristlose Kündigung mit Umsicht zu begründen ist (vgl. zur Begründungspflicht Art. 337 Abs. 1 OR). Die Rechtsprechung verbietet es, x-beliebige Umstände als Begründung für die fristlose Kündigung vorzubringen. Ein Nachschieben von Kündigungsgründen ist nur zulässig, sofern der nachgeschobene Grund (ob ähnlich oder von der ursprünglichen Begründung gänzlich abweichend) im Zeitpunkt der Kündigung nicht bekannt war. War er hingegen bekannt und wurde dieser im Zuge der schriftlichen Kündigung nicht vorgebracht, kann er nicht als nachträgliche Begründung herangezogen werden. Abschliessend sei auf die im vorliegenden Entscheid nur am Rande angesprochene Rechtslage hingewiesen, wonach bei der Aussprechung einer fristlosen Kündigung nach einer ordentlichen Kündigung (während einer laufenden Kündigungsfrist) erhöhte Anforderungen an den wichtigen Kündigungsgrund gelten. In einer solchen Konstellation sei dem Arbeitgeber zu einer besonderen Zurückhaltung geraten.