Rechtsprechung: Haftung für nicht bezahlte AHV-Beiträge (22.12.2016)

Im Urteil 9C_66/2016 vom 10. August 2016 bestätigte das Bundesgericht die strengen Haftungsfolgen für nicht abgeführte Sozialversicherungsbeiträge. Folgender Sachverhalt war zu beurteilen: A war zunächst Mitglied und danach Vizepräsident des Verwaltungsrats der B AG. Nachdem die Ausgleichskasse diverse Verlustscheine gegen die B AG erwirkt hatte, verpflichtete sie unter anderen A, für entgangene Sozialversicherungsbeiträge Schadenersatz im Betrag von fast CHF 300'000.- zu bezahlen. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die dagegen erhobene Beschwerde ab. Es verpflichtete A, der Ausgleichskasse in solidarischer Haftung mit den weiteren Beklagten Schadenersatz im infolge zwischenzeitlich geleisteter Zahlungen reduzierten Betrag von Fr. 73'683.70 zu leisten. A gelangte ans Bundesgericht, welches die Begehren von A ebenfalls abweist.

In Bezug auf die Grundlage der vorliegend entscheidenden Arbeitgeberhaftung  (Art. 52 AHVG; Art. 14 Abs. 1 AHVG i.V.m. Art. 34 ff. AHVV) verwies das Bundesgericht auf die vorinstanzlichen Ausführungen. Unbestritten war, dass die B AG ihrer Pflicht zur Abrechnung und Ablieferung der AHV-Beiträge während mehreren Jahren nur unzureichend nachgekommen war. Letztinstanzlich umstritten war einzig das Verschulden von A. Hierzu äusserte sich das Bundesgericht, wie folgt:

Die Vorinstanz ging von einem groben Verschulden von A aus mit der Begründung, dieser sei als formelles Organ verpflichtet gewesen, jederzeit die wirtschaftliche Lage der B AG zu kennen. Aufgrund der Akten sei erstellt, dass ihm die Liquiditätsprobleme der Gesellschaft bekannt gewesen seien. Angesichts dieser Liquiditätsprobleme wäre A auch als nicht geschäftsführender Verwaltungsrat verpflichtet gewesen, sich laufend einen Überblick über die hängigen Verbindlichkeiten und deren Bedeutung zu verschaffen, auch wenn die Geschäftsführung und insbesondere das Beitragswesen Sache des Verwaltungsratspräsidenten gewesen sei sollten. Dass Letzterer die relevanten Dokumente von sich aus nicht vorgelegt haben soll, sei nicht entscheidend, hätte sich A doch selbst Kenntnis über den erheblichen Ausstand zu bezahlender Sozialversicherungsbeiträge verschaffen und die notwendigen Massnahmen ergreifen müssen. Ohne eigene Überprüfung und ohne erfolgte Dokumentation hätte er sich - zumal die Liquiditätslage der Gesellschaft äusserst angespannt gewesen sei - nicht auf die Aussagen und Zusicherungen des Verwaltungsratspräsidenten verlassen dürfen, wonach die Ausstände angegangen würden.

Vor Bundesgericht brachte A erfolglos vor, der Verwaltungsratspräsident habe entweder versucht, die Ausstände zu verheimlichen und den Verwaltungsrat mit falschen Bilanzen zu täuschen, oder sei schlicht nicht in der Lage gewesen, die Ausstände und Schulden richtig zu bilanzieren. Des Weiteren wies das Bundesgericht die Rüge zurück, wonach A von der Bezahlung der ausstehenden Sozialversicherungsbeiträge ausgehen durfte. Daran ändere auch nichts, dass die Ausstände immer in der Kategorie "sehr, sehr dringende Zahlungen" gelistet gewesen und nicht grösser geworden seien.

Soweit A vorbringt, er habe aufgrund der vom Verwaltungsratspräsidenten präsentierten Unterlagen keinen Handlungsbedarf erkennen können, hält das Bundesgericht dem entgegen, dass ihm nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz die Liquiditätsprobleme des Unternehmens sehr wohl bekannt gewesen seien. Angesichts der angespannten finanziellen Lage der Gesellschaft hätte sich A - im Rahmen der ihm nach Art. 716a Abs. 1 Ziff. 3 OR obliegenden, unübertragbaren Aufgaben - näher mit dem Geschäftsgang befassen, die finanziellen Abläufe im Betrieb kritisch verfolgen und nachprüfen müssen. Dazu gehörte namentlich die Pflicht, sich über die bestehenden Verbindlichkeiten und deren korrekte Erfüllung zu informieren und nötigenfalls Massnahmen für deren ordnungsgemässe Zahlung zu treffen. Mit anderen Worten wäre A gehalten gewesen, dafür besorgt zu sein, dass bei den fortgesetzten Lohnzahlungen die darauf ex lege geschuldeten paritätischen Beiträge abgeliefert und nicht für andere Zwecke verwendet werden. Zur Erfüllung dieser Pflicht hätte A Einsicht in die entsprechenden Unterlagen - und nicht nur in Bilanzen und Erfolgsrechnungen - nehmen müssen. Weil die Einhaltung der gebotenen Sorgfalt Kenntnis der die Lohnabrechnungs- und Beitragspflicht betreffenden Belege voraussetzte, kann entgegen A schlechterdings nicht entscheidend sein, dass die vom Verwaltungsratspräsidenten vorgelegten Dokumente nicht den tatsächlichen Umfang der Ausstände gegenüber der Beschwerdegegnerin zeigten. Im Übrigen - und selbst unter Ausblendung der schwierigen finanziellen Situation der AG - hätte schon das sorgfältige Studium der vom Verwaltungsratspräsidenten vorgelegten Unterlagen Unstimmigkeiten zu Tage gefördert.

Ebenso unbehelflich war das Vorbringen, wonach er Arbeitnehmer des Unternehmens gewesen sei und gegenüber dem äusserst autoritären Verwaltungsratspräsidenten in einem Subordinationsverhältnis gestanden habe. Dies war für das Bundesgericht nicht entlastend. Denn im Bereich von Art. 52 AHVG gelte ein objektivierter Verschuldensmassstab. Subjektive Entschuldbarkeit oder die Gründe für die Annahme des Verwaltungsratsmandats seien unbeachtlich. Daher bleibe die formelle Organstellung und damit die strenge Haftung nach Art. 52 AHVG auch dann bestehen, wenn die Einsitznahme in den Verwaltungsrat aus einer arbeitsvertraglichen Verpflichtung heraus erfolgt. Sofern sich A aufgrund des - seiner Schilderung nach - "äusserst autoritären" Verwaltungsratspräsidenten bzw. der Furcht vor arbeitsrechtlichen Sanktionen nicht in der Lage sah, die gesetzlichen Kontrollrechte und Aufsichtspflichten auszuüben, rühre der Schuldvorwurf gerade aus dem Umstand, sich auf eine Verwaltungsratsstellung in Verhältnissen eingelassen (bzw. nicht umgehend demissioniert) zu haben, welche die gesetzlich vorgeschriebene Erfüllung dieses Amtes (Art. 716a OR) verunmöglichen.

Kommentar: Die Absätze 1 und 2 von dem im vorliegenden Urteil im Zentrum stehenden Art. 52 AHVG lauten wie folgt: "Fügt ein Arbeitgeber durch absichtliche oder grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften der Versicherung einen Schaden zu, so hat er diesen zu ersetzen. Handelt es sich beim Arbeitgeber um eine juristische Person, so haften subsidiär die Mitglieder der Verwaltung und alle mit der Geschäftsführung oder Liquidation befassten Personen. Sind mehrere Personen für den gleichen Schaden verantwortlich, so haften sie für den ganzen Schaden solidarisch." Diese spezialgesetzliche subsidiäre und persönliche Haftung der Mitglieder des obersten Leitungs- oder Verwaltungsorgans (bei der AG der Verwaltungsratsmitglieder) ist vielen Organmitgliedern nicht oder nur unzulänglich bekannt, was angesichts der möglicherweise drastischen Rechtsfolgen einer Veranwortlichkeit erstaunt. Diese zwingen Organmitglieder nämlich, ein besonders wachsames Auge auf die Erfüllung der sozialversicherungsrechtlichen Pflichten zu richten, andernfalls das Verwaltungsratsmitglied riskiert, seinen Sorgfaltspflichten gemäss Art. 717 OR nicht genügend nachzukommen. Erschwerend kommt im vorliegend zu beurteilenden Sachverhalt hinzu, dass das Gesetz in Art. 716a Abs. 1 Ziff. 3 und 5 die Finanzkompetenz sowie die Oberaufsicht unübertragbar dem Verwaltungsrat zuweist. Gemäss Bundesgericht bedeutet dies, dass ein Organmitglied jederzeit die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft kennen müsse. Im Zusammenhang mit nicht abgeführten AHV-Beiträgen betont das Bundesgericht nun, dass ein einfacher Blick in die Buchhaltung nicht ausreicht, um seiner Sorgfaltspflicht in rechtsgenüglicher Weise nachzukommen. Vielmehr haben Mitglieder des obersten Leitungsorgans auch Einsicht in die Belege zu nehmen und müssen hierfür gegebenenfalls selber aktiv werden. Dies gelte nicht nur bei finanziell notleidenden Unternehmen! All dies gilt gemäss höchstrichterlichem Rechtsspruch unabhängig davon, ob das betroffene Verwaltungsratsmitglied individualvertragsrechtlich als Arbeitnehmer oder als blosser Beauftragter zu qualifizieren ist; Art. 52 AHVG stellt einzig auf seinen gesellschaftsrechtlichen Status als Mitglied des obersten Leitungsgremiums ab.