Rechtsprechung: Gerichtsberichterstattung und Beschränkung der Medienfreiheit (10.03.2016)

In einem am 6. November 2015 ergangenen Urteil (1B_169/2015 bzw. 1B_177/2015, zwischenzeitlich in der amtlichen Sammlung publiziert unter BGE 141 I 211) hatte sich das Bundesgericht zur Einschränkung der Gerichtsberichterstattung und deren Vereinbarkeit mit der Medienfreiheit (Art. 17 BV) zu befassen. Es war folgender Sachverhalt zu beurteilen:

Das Bezirksgericht Uster hatte über eine Anklage der Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich gegen C. wegen Rassendiskriminierung zu befinden. Diese warf ihm vor, auf der Online-Kommunikationsplattform "Twitter" rassendiskriminierende Kurznachrichten veröffentlicht zu haben. Auf Antrag des Beschuldigten verfügte der Einzelrichter für die Hauptverhandlung folgende Anordnung:

"1. Den Gerichtsberichterstattern bzw. Medienvertretern wird die Auflage erteilt, die Anonymität der beschuldigten Person wie folgt zu wahren:
In einer allfälligen Berichterstattung wird untersagt,
a) den Namen der beschuldigten Person zu nennen;
b) Fotos der beschuldigten Person zu publizieren; und
c) Alter, Wohnort, Arbeitgeber und die Adresse des Internetblogs der beschuldigten Person zu publizieren.
2. Gerichtsberichterstatter bzw. Medienvertreter, welche die Anordnung gemäss Ziffer 1 vorstehend missachten, können mit Ordnungsbusse bis zu Fr. 1'000.- bestraft werden. § 12 der Akteneinsichtsverordnung der obersten Gerichte (LS 211.15) bleibt vorbehalten."
 
Dagegen erhoben zwei akkreditierte Gerichtsberichterstatterinnen Beschwerde, welche das Obergericht Züricht teilweise guthiess. Namentlich hob es die einzelrichterliche Verfügung im Umfang des Verbotes, den Namen und das Alter des Beschuldigten zu publizieren, auf. Im Übrigen (hinsichtlich Verbot, das Bild sowie den Wohnort, den Arbeitgeber und die Adresse des Internetblogs des Beschuldigten bekannt zu geben) wurde die Beschwerde abgewiesen. Gegen das obergerichtliche Urteil führen die Gerichtsberichterstatterinnen beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen mit der Begründung, dass die von der Vorinstanz angerufene kantonale Verodnung keine genügende gesetzliche Grundlage darstelle, um die Medien- und Informationsfreiheit von Gerichtsberichterstattern mit konkreten Auflagen einzuschränken und solche mit einer Bussenandrohung zu verknüpfen.
 
Im Zentrum der bundesgerichtlichen Erwägungen stand die Medienfreiheit, wie sie in Art. 17 BV verankert ist (mangels Relevanz wurde auf die Medienfreiheit als Teilgehalt von Art. 10 EMRK nicht eingegangen). Danach ist die Freiheit von Presse, Radio und Fernsehen sowie anderer Formen der öffentlichen fernmeldetechnischen Verbreitung von Darbietungen und Informationen gewährleistet (Abs. 1). Das Bundesgericht betont, dass die Freiheit der Medien zu den zentralen Ausprägungen des allgemeinen Grundrechts freier Meinungsäusserung gehört. Normativer Kern der Medienfreiheit ist die Sicherung des ungehinderten Nachrichtenflusses und des freien Meinungsaustausches. Geschützt ist die Recherchetätigkeit der Journalisten zur Herstellung von Medienerzeugnissen und zu deren Verbreitung in der Öffentlichkeit. Die damit vermittelte Freiheit des Medienschaffens ist nicht Selbstzweck. Vielmehr hat der ungehinderte Fluss von Informationen und Meinungen in einem demokratischen Rechtsstaat eine wichtige gesellschaftliche und politische Bedeutung. Den Medien kommt als Informationsträger die Funktion eines Bindeglieds zwischen Staat und Öffentlichkeit zu. Zugleich leisten die Medien einen wesentlichen Beitrag zur Kontrolle behördlicher Tätigkeiten. Dies vorausgeschickt stellt das Bundesgericht fest, dass das den Beschwerdeführerinnen auferlegte Verbot, bestimmte Informationen über den Beschuldigten zu publizieren, einen Eingriff in die Medienfreiheit gemäss Art. 17 BV darstellt, welcher nur in den Schranken von Art. 36 BV zulässig ist. Danach bedürfen Einschränkungen von Grundrechten einer gesetzlichen Grundlage. Schwerwiegende Einschränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein (Abs. 1). Bei einem leichten Eingriff genügt ein Gesetz im materiellen Sinn (Verordnung). Einschränkungen von Grundrechten müssen sodann durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt (Abs. 2) und verhältnismässig sein (Abs. 3).
 
Gemäss Art. 69 StPO sind die Verhandlungen sowie die mündliche Eröffnung von Urteilen und Beschlüssen dieser Gerichte mit Ausnahme der Beratung öffentlich (Abs. 1). Öffentliche Verhandlungen sind allgemein zugänglich (Abs. 4). Für die Bürgerinnen und Bürger soll ersichtlich sein, wie die Richter die ihnen übertragene Verantwortung wahrnehmen. Der Grundsatz der publikumsöffentlichen Verhandlung dient ganz allgemein einer transparenten Justiztätigkeit und Rechtsfindung. Da nicht jedermann jederzeit an beliebigen Gerichtsverhandlungen teilnehmen kann, übernehmen die Medien mit ihrer Gerichtsberichterstattung insofern eine wichtige Brückenfunktion, als sie die richterliche Tätigkeit einem grösseren Publikum zugänglich machen. Die Gerichtsberichterstattung dient damit einer erweiterten bzw. mittelbaren Gerichtsöffentlichkeit und in diesem Sinn besteht an ihr ein erhebliches öffentliches Interesse.
 
Das Bundesgericht prüfte in der Folge, ob eine genügende gesetzliche Grundlage für die erlassene richtliche Anordnung besteht. Hierzu führte es zusammengefasst aus: Nach Art. 70 StPO kann das Gericht die Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen ganz oder teilweise ausschliessen, wenn: a. die öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder schutzwürdige Interessen einer beteiligten Person, insbesondere des Opfers, dies erfordern, oder b. grosser Andrang herrscht (Abs. 1). Das Gericht kann Gerichtsberichterstattern und weiteren Personen, die ein berechtigtes Interesse haben, unter bestimmen Auflagen den Zutritt zu Verhandlungen gestatten, die nach Absatz 1 nicht öffentlich sind (Abs. 3). Art. 70 Abs. 3 StPO sieht somit eine Besserstellung der Gerichtsberichterstatter gegenüber dem übrigen Prozesspublikum vor. Diese Bevorzugung trägt der dargelegten Brückenfunktion der Medien Rechnung. Hierzu erwog das Bundesgericht, dass die von der einschränkenden Anordnung betroffene Hauptverhandlung öffentlich war. Zugang hatten somit nicht nur die Gerichtsberichterstatter, sondern jedermann. Das Verbot, bestimmte Informationen über den Beschwerdegegner zu publizieren, traf jedoch einzig die Gerichtsberichterstatter, nicht aber das übrige Prozesspublikum. Jeden anderen Prozessbesucher hinderte die Verfügung des Einzelrichters nicht, die betreffenden Informationen an Dritte weiterzugeben, gegebenenfalls auch auf dem Internet mit breiter Wirkung. Die Gerichtsberichterstatter wurden also gegenüber dem übrigen Prozesspublikum schlechter gestellt. Das läuft dem Grundsatz zuwider, wonach den Gerichtsberichterstattern eine gegenüber dem übrigen Prozesspublikum privilegierte Stellung zukommt, was für einen schweren Eingriff in die Medienfreiheit spricht. Der Einzelrichter verbot den Gerichtsberichterstattern, bestimmte Informationen über den Beschwerdegegner zu verbreiten. Er begrenzte damit den möglichen Inhalt der Prozessberichterstattung. Eine derartige staatliche Einflussnahme auf Medieninhalte bedarf besonderer Rechtfertigung. Der Einzelrichter drohte für die Missachtung des Verbots zudem eine Ordnungsbusse bis zu Fr. 1'000.- an. Dies stellt einen ansehnlichen Betrag dar, der geeignet war, auf die Gerichtsberichterstatter eine abschreckende Wirkung auszuüben. Dies lässt zusätzlich auf einen schweren Eingriff in die Medienfreiheit schliessen, bei welchem eine klare und ausdrückliche Grundlage in einem formellen Gesetz erforderlich wäre.
 
In seiner Subsumtion hält das Bundesgericht fest, dass Art. 70 Abs. 3 StPO die Erteilung von Auflagen an die Gerichtsberichterstatter einzig bei Ausschluss der Öffentlichkeit gestattet ist. Einen solchen Ausschluss verfügte der Einzelrichter nicht. Da auch im kantonalen züricherischen Recht keine Grundlage für die angeordnete Auflagen besteht, kam das Bundesgericht zum Schluss, dass eine klare und ausdrückliche Grundlage in einem formellen Gesetz für den Eingriff in die Medienfreiheit nicht besteht und ferner dass die vom Einzelrichter angerufene kantonale Verordnung (Akteneinsichtsverordnung, AEV) keine hinreichende Grundlage für den Eingriff in die Medienfreiheit enthalte, selbst wenn man zur Auffassung gelangen würde, es läge lediglich ein leichter Eingriff in die Medienfreiheit vor.
 
Obwohl es bereits an der Voraussetzung einer genügenden gesetzlichen Grundlage mangelt, äusserte sich das Bundesgericht auch noch zur Verhältnismässigkeit: Insbesondere hinsichtlich des Verbots, die Adresse des Internetblogs des Beschwerdegegners bekannt zu geben, äusserte es Zweifel. Denn (nach dem obergerichtlichen Urteil) durften die Gerichtsberichterstatter Namen und Alter des Beschuldigten publizieren. Wer aber - so das Bundesgericht weiter - in der Suchmaschine "Google" den Namen des Beschwerdegegners eingibt, stösst sofort auf dessen Blog. Da sich der Beschwerdegegner mit dem Blog selber an die Öffentlichkeit richtet, dürfte er zudem ein Interesse haben, dass möglichst viele Personen von seinen Darlegungen Kenntnis nehmen. Weshalb es den Gerichtsberichterstattern deshalb hätte verboten sein sollen, die Adresse des Internetblogs zu nennen, ist für das Bundesgericht deshalb schwer nachvollziehbar.
 
Das Bundesgericht hat die Beschwerden der beiden Gerichtsberichterstatterinnen deshalb gutgeheissen. Der Beschluss der Vorinstanz wurde im Umfang der Anträge aufgehoben.
 
Kommentar: Das Prinzip der Gerichtsöffentlichkeit und der Schutz der Verfahrensbeteiligten stehen im Spannungsverhältnis zwischen der Informations- und Medienfreiheit gemäss Art. 16 f. BV einerseits und der persönlichen Freiheit des Beschuldigten gemäss Art. 10 und 13 BV andererseits (vgl. Nobel, Medienrecht, 14. Kapitel N 21 ff.). Mit diesem Spannungsfeld befasste sich das Bundesgericht in diesem Entscheid, wobei es die Wichtigkeit der Medien für Demokratie und Rechtsstaat und deren "Brückenfunktion" besonders betont. Mit anderen Worten hat vorliegend deren Wächter- und Mittlerfunktion im Rahmen des demokratischen Diskurses oder - wie es der EGMR ausdrückt - ihre Rolle als "public watchdog" (vgl. Nobel, Medienrecht, 1. Kapitel N 19 ff.) mehr Gewicht erfahren als der Schutz des Beschuldigten. Mit dem vorliegenden Entscheid setzte das Bundesgericht ein klares Zeichen zugunsten dieser öffentlichen Funktion der Medien.