Rechtsprechung: Haftung bei nicht in Betrieb befindlichen Motorfahrzeugen (24.09.2015)

Gemäss Art. 58 Abs. 1 SVG haftet der Halter, wenn durch den Betrieb eines Motorfahrzeuges ein Mensch getötet oder verletzt oder Sachschaden verursacht wird. Nach Art. 58 Abs. 2 haftet der Halter für Verkehrsunfälle durch ein nicht in Betrieb befindliches Motorfahrzeug unter anderem, wenn der Geschädigte beweist, dass den Halter oder Personen, für die er verantwortlich ist, ein Verschulden trifft. Während die Verantwortlichkeit gemäss Art. 58 Abs. 1 SVG eine Gefährdungshaftung als besondere Art der Kausalhaftung ist, handelt es sich bei der persönlichen Haftung des Halters bzw. der verantwortlichen Person ausserhalb des Fahrzeugbetriebes um eine Verschuldenshaftung, welche nur zum Tragen kommt, wenn den Halter bzw. die verantwortliche Person schuldhaft handelte.

Mit der Frage der Verschuldenshaftung hatte sich das Bundesgericht im Entscheid 4A_83/2015 vom 15. Juni 2015 zu befassen. Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde: Ein Motorradfahrer fuhr auf einer rund sieben Meter breiten Nebenstrasse. In seiner Fahrtrichtung war am Strassenrand ein LKW zum Zwecke des Warenumschlags parkiert. Der LKW befand sich mit rund 70 cm auf dem Trottoir, in seiner restlichen Breite auf der Strasse und liess damit auf der rechten Fahrspur einen Durchfahrbereich von etwas mehr als einem Meter offen. Um die Ware abladen zu können, liess der LWK-Fahrer die Ladebordwand auf der Rückseite des Fahrzeuges in die Horizontale herunterklappen, wodurch sie in den Luftraum der Strasse ragte. An der Unterseite der Ladebordwand waren gelb-schwarze Warnflaggen montiert. Der Motorradfahrer kam zu Fall, als er versuchte, den LKW zu umfahren und dabei mit der rechten Schulter die Ladebordwand touchierte. Dabei verletzte er sich schwer.

Zunächst zog das Bundesgericht in Erwägung, dass der LKW im Zeitpunkt des Unfalls auf dem Trottoir parkiert und damit nicht in Betrieb war. Die Kausalhaftung gemäss Art. 58 Abs. 1 SVG kommt daher nicht zur Anwendung. Eine allfällige Haftung stützt sich vielmehr auf Art. 58 Abs. 2 SVG, was ein Verschulden des LKW-Fahrers voraussetzt und insbesondere Unfallsituationen, wie das Anhalten oder Parkieren an untunlicher Stelle erfasst (vgl. hierzu BGE 107 II 269). Das Bundesgericht hatte demnach zu entscheiden, ob dem LKW-Führer ein Verschulden vorgeworfen werden kann. Für die Verschuldensfrage massgeblich sei nicht die subjektive Aufmerksamkeit des Motorradlenkers, sondern der objektive Massstab eines durchschnittlichen Verkehrsteilnehmers. In diesem Zusammenhang führte das Bundesgericht unter Hinweis auf die einschlägige Strassenverkehrsgesetzgebung (namentlich Art. 21 Abs. 2 VRV) aus, dass Nebenstrassen vornehmlich dem Nahverkehr dienen und auf solchen Strassen stets ein gewisses Risiko durch Halten und Parkieren geschaffen werden dürfe. Da überdies der LKW von weitem sichtbar war und der LKW-Fahrer nicht damit rechnen musste, dass ein Verkehrsteilnehmer bis auf wenige Meter an den LKW heranfährt und erst dann zum Überholen ansetzt, entfiel eine Haftung gestützt auf Art. 58 Abs. 2 SVG.

Kommentar: Die landläufig bekannte verschuldensunabhängige Haftung des Fahrzeughalters gilt nur, sofern dessen Motorfahrzeug in Betrieb ist, andernfalls eine Haftung nur in Frage kommt, wenn dem Halter ein Verschulden vorgeworfen werden kann. Dieses ist bei Verkehrssituationen auf Nebenstrassen, wo mit parkierten oder anderweitig den Verkehr behindernden Fahrzeugen auf der Fahrbahn zu rechnen ist, lediglich zurückhaltend zu bejahen. Erstaunlicherweise nicht in Erwägung zog das Bundesgericht das Anbringen der Warnflaggen an der ausgeklappten Ladebordwand. Diese Massnahme spricht desgleichen gegen ein Verschulden des LKW-Führers, der mit dieser Massnahme herannahende Verkehrsteilnehmer vor der Gefahr des angehaltenen LKW warnte und damit seine Verantwortung wahrnahm.