Rechtsprechung: Swisscom scheitert an baurechtlicher Ästhetikklausel (22.07.2015)

Im Entscheid 1C_265/2014 vom 22. April 2015 hatte das Bundesgericht die Gelegenheit, seine bereits sehr umfangreiche Spruchpraxis zu öffentlich-rechtlichen Fragestellungen im Zuge der Erstellung einer Mobilfunkanlage zu ergänzen. Die Swisscom (Schweiz) AG stellte am 26. März 2011 bei der thurgauischen Gemeinde Bichelsee-Balterswil ein Baugesuch für den Abbruch einer bestehenden und die Errichtung einer neuen, 21 m hohen Mobilfunkanlage. Gegen das Baugesuch gingen Einsprachen ein. Mit Entscheid vom 23. April 2012 verweigerte der Gemeinderat in teilweiser Gutheissung der Einsprachen die Baubewilligung mit der Begründung, die geplante Mobilfunkanlage widerspreche den Eingliederungsvorschriften (Ästhetikklausel) gemäss kommunalem Baureglement. Nachdem das Verwaltungsgericht Thurgau die ausgesprochene Bauverweigerung durch den Gemeinderat bestätigte, gelangte die Swisscom (Schweiz) AG mit Beschwerde ans Bundesgericht, welches zusammenfassend folgendes festhält:

Ausgangspunkt der bundesgerichtlichen Überlegung ist der fundamentale raumplanerische Grundsatz der Trennung von Bau- und Nichtbaugebiet sowie die Feststellung, dass Infrastrukturanlagen zur Erschliessung oder Versorgung des Siedlungsgebietes grundsätzlich innerhalb der Bauzone errichtet werden müssen. Unter Hinweis früherer Urteile (BGE 133 II 321, BGE 138 II 173) erwog das Bundesgericht, dass Mobilfunkanlagen innerhalb der Bauzonen nur als zonenkonfrom betrachtet werden können, soweit sie hinslichtlich Standort und Ausgestaltung in einer unmittelbaren funktionellen Beziehung zum Ort stehen, an dem sie errichtet werden sollen, und im Wesentlichen Baulandzonen abdecken. Es stellte aber klar, dass aus dieser Rechtsprechung indessen nicht abgeleitet werden könne, Mobilfunkanlagen dürfen generell nur der lokalen Versorgung ihrer Zonen dienen. Denn in ländlichen Gebieten erfasse die Vorsorgung von Mobilfunkanlagen aus technischen Gründen verhältnismässig grosse Nichtbaugebiete, weshalb es nicht gegen Bundesrecht verstosse, wenn das Versorgungsgebiet einer Mobilfunkanlage flächenmässig erheblich mehr Land in der Nichtbauzone als in der Bauzone umfasst.

Die beschwerdeführende Swisscom (Schweiz) AG scheiterte hingegen am kommunalen Baureglement. Dieses sieht sogenannte Eingliederungsvorschriften vor, wonach "Bauten und Anlagen das Landschafts-, Orts-, Quartier- und Strassenbild nicht beeinträchtigen" dürfen und sich "zudem so in ihre Umgebung einzupassen [haben], dass sie die Gesamtwirkung nicht stören". U.a. in der Dorf- und Weilerzone, wo die in Frage stehende Mobilfunkanlage erstellt werden sollte, gelten sogar erhöhte Anforderungen. Zunächst hielt das Bundesgericht fest, dass auch allgemeine (also nicht im Hinblick auf Fernmeldeanlagen legiferierte) Ästhetikklauseln auf Mobilfunkanlagen angewendet werden dürfen, indessen auf die Zielsetzungen der Fernmeldegesetzgebung angemessen Rücksicht zu nehmen ist (so bereits BGE 133 II 353, E. 4.2). Die im Interesse des Ortsbildschutzes erlassenen ortsplanerischen Bestimmungen dürfen daher die Wahrnehmung des Versorgungsauftrags der Mobilfunkbetreiber nicht vereiteln oder über Gebühr erschweren. Grenze planerischer Restriktionen ist demnach der Zweckartikel des Fernmeldegesetzes (FMG), wonach insbesondere eine zuverlässige und erschwingliche Grundversorgung mit Fernmeldediensten für alle Bevölkerungskreise in allen Landesteilen gewährleistet werden soll.

In den weiteren Erwägungen ruft das Bundesgericht vorweg in Erinnerung, dass Mobilfunkanlagen gemäss dem Prinzip der Trennung von Bau- und Nichtbaugebiet ausserhalb der Bauzone grundsätzlich nicht zonenkonform sind und daher dort nur errichtet werden dürfen, wenn eine Ausnahmebewilligung gemäss Art. 24 des Raumplanungsgesetzes (RPG) erteilt werden darf. Diese Bestimmung stipuliert die sogenannte Standortgebundenheit einer Baute oder Anlage. Standortgebunden ist eine Anlage, wenn sie aus technischen oder betriebswirtschaftlichen Gründen auf einen Standort ausserhalb der Bauzone angewiesen ist, oder wenn die Anlage aus bestimmten Gründen in der Bauzone ausgeschlossen ist. In Rezitierung seiner bisherigen Rechtsprechung hierzu hält das Bundesgericht fest, dass eine Mobilfunkanlage im Sinne dieser Bestimmung absolut standortgebunden ist, wenn eine Deckungs- oder Kapizitätslücke aus funktechnischen Gründen mit Standorten innerhalb der Bauzone nicht in genügender Weise beseitigt werden kann. Relativ standortgebunden (und somit ebenso bewilligungsfähig) sind Mobilfunkanlagen, wenn sie gegenüber Standorten innerhalb der Bauzone als erheblich vorteilhafter erscheint und keine erhebliche Zweckentfremdung von Nichtbauzonenland bewirken und nicht störend in Erscheinung treten. In Anwendung dieser Rechtsprechung war deshalb auch im vorliegenden Fall zu prüfen, ob taugliche Ersatzstandorte innerhalb der Bauzone vorhanden sind, was das Bundesgericht verneinte. Schliesslich betonte es, dass Mobilfunkanlagen im Rahmen einer konkreten Standortevaluation ausserhalb der Bauzone nur dann zugelassen werden können, wenn sie dort gestützt auf eine "umfassende einzelfallbezogene Interessenabwägung" gemäss Art. 24 RPG bewillgt werden dürfen. Vor diesem Hintergrund habe die Vorinstanz kein Bundesrecht verletzt, wenn es bei der Anwendung einer kommunalen Ästhetikklausel unter Berücksichtigung eines bestimmten Alternativstandortes ausserhalb der Bauzone eine konkrete Standortevaluation vornahm und dabei im Rahmen einer umfassenden Interessenabwägung prüfte, ob an diesem Ort für eine Mobilfunkanlage gemäss Art. 24 RPG eine Ausnahmebewilligung in Frage kommt. Weil die Mobilfunkanlage am Alternativstandort im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht störend sei (da diese inmitten anderer elektrischen Anlagen und Hochspannungsmasten gelegen wäre), erscheine die Anlage am Alternativstandort i.S.v. Art. 24 RPG als relativ standortgebunden. Im Umkehrschluss erscheint der bewilligungsgegenständliche Standort zur Erfüllung des Versorgungsauftrags der Beschwerdeführerin aktuell als nicht erforderlich. Aus diesen Gründen wurde die Baubewilligung für den geplanten Standort zurecht nicht erteilt, weshalb das Bundesgericht die Beschwerde abwies.

Kommentar: Das Urteil ist einerseits deshalb nennenswert, weil es ein weiterer Mosaikstein in einer facettenreichen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu raumplanungsrechtlichen Fragen bei Erstellung neuer Mobilfunkanlagen darstellt. Andererseits kann er die Verfahrensbeteiligten einmal mehr an ihre Aufgaben bei und Möglichkeiten im Hinblick auf die Errichtung neuer Fernmeldeanlagen erinnern. Der bundesgerichtliche Mahnfinger richtet sich dabei primär an die Telekommunikationsunternehmen, welche bereits vor Einreichung des Baugesuches eine "umfassende einzelfallbezogene Interessenabwägung" im Sinne einer ausgedehnten und gründlichen Standortevaluation vorzunehmen haben, und dies unabhängig davon, ob eine Mobilfunkanlage innerhalb oder ausserhalb der Bauzone geplant ist. Das ist wahrlich keine leichte Aufgabe. Ausserdem kann das Urteil bei den Gemeinden ins Gedächtnis rufen, welche weitreichenden Wirkungen sogar generalklauselartige Vorschriften in ihrem Baureglement, etwa als "Gummiparagraphen" gescholtene Ästhetikregelungen, haben können und deshalb einer ständigen Überprüfung im Lichte der aktuellen Rechtsprechung bedürfen.